Selbst Ständig Süchtig

Selbst Ständig Süchtig

Als ich nach meiner Rückkehr aus England in das Café komme, fühlt sich das sehr gut an. Mir gehört noch immer die Hälfte des Ladens, aber mit dem laufenden Tagesgeschäft habe ich nichts mehr zu tun. Vor einem Jahr habe ich die Geschäftsführung an eine Partnerin übergeben und freue mich nun zu sehen, dass sie Getränke anbietet, auf die ich nie gekommen wäre. Eine blonde Barista macht lächelnd einen Cappuccino, vor ihr eine Frau, die diesen Cappuccino sehr ernst zu nehmen scheint. Diese Wärme aus Geräuschkulisse, Kaffeegeruch und großstädtischer Gelassenheit saugt mich gleich wieder ein. Vor Jahren kam mal ein Kunde zu mir und nannte diesen Ort „a place to be“. Das ich das noch heute so empfinde, ist Segen wie Fluch zugleich.

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Meinen Job im Laden abzugeben, fiel mir schwer. Nicht, weil ich mich für unersetzlich hielt. Ich hatte eher Angst davor zu erfahren, was von mir bleibt und wer ich bin, wenn ich nicht mehr der Unternehmer bin. Ist man jahrzehntelang darauf konditioniert, sich selbst nur über Erfolg und Misserfolg seines Geschäfts zu definieren und die privaten den beruflichen Belangen unterzuordnen, dann verliert man sich zunehmend selbst aus den Augen, bis man schließlich eines Tages kaum noch weiß, wie vernünftigere Leute ein normales Leben führen und wer man irgendwann vorher einmal war.

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Nach insgesamt über 30 Jahren betrachte ich die Selbstständigkeit daher sehr ambivalent. Natürlich macht es irrsinnig viel Spaß, Konzepte zu entwickeln und sein eigener Chef zu sein. Nichts ist schöner als selbsterdachte Ideen Wirklichkeit werden zu lassen und durch den Zuspruch anderer Leute sein Geld zu verdienen. Dank der Begeisterung und hohen Motivation hat man nie das Gefühl, wirklich zu arbeiten. Zeit spielt keine Rolle, die Grenzen von Arbeit und Privatleben verschwimmen, werden mit Hobby zum Beruf gemacht schöngeredet. Das ist gut, wenn alles gut ist. Nicht gut, wenn nicht alles gut ist. Dann brauchst du zuhause ein sehr großes Sofa, weil die zermürbende Steuerprüfung genauso wie die Kuh, die dich vorhin wegen dem verwechselten Ciabatta so zusammengefaltet hat, abends breit neben dir sitzen.

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Unternehmertum mit Leidenschaft ist wie eine Sucht, die auf positivem Stress, finanziellen Möglichkeiten und gesellschaftlicher Anerkennung basiert. Meine Zeit im Bulli ist daher der kalte Entzug, den ich zwischen Schweiß und Frust aushalten muss, um fernab der Heimat die nötige Distanz zu finden, um eines schönen Tages auf Neustart drücken zu können. Eine Sucht besiegen, alte Gewohnheiten ablegen und neue Sichtweisen zu finden sind Notwendigkeiten, die alltags im gewohnten Lebensumfeld nur selten gelingen.

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Nicht, dass wir uns falsch verstehen. Selbstständig zu sein ist für mich nach wie vor alternativlos. Doch wenn wir später nicht irgendwann das Gefühl haben möchten, etwas im Leben verpasst oder sogar zeitweilig das Leben eines Anderen gelebt zu haben, dann müssen wir uns alle paar Jahre mal bewegen, nachsehen und neu positionieren. Für mich persönlich war die Zeit als Barista über mehr als 15 Jahre genau das richtige Ding in dieser Phase. Doch während der Job sich kaum verändert, machen es meine Weltsicht, das Körpergefühl und die Erwartungen in großen Schritten. Ich suche heute mit über 50 andere Erfahrungen als zu Anfang dieses Jahrtausends. Erlebnisse, Verluste und Rückschläge haben mich verändert in dieser Zeit. Die Reise, auf der ich mich befinde, und das ist mir soeben klar geworden, führt mich im Bulli zwar in andere Länder, aber eigentlich findet sie in meinem Kopf statt. Egal wo ich bin.

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Heute befinde ich mich auf der anderen Seite des Tresens und sehe den jungen Frauen in ihren Schürzen bei der Arbeit zu. Ich freue mich, dass sie Spaß haben, höre sie lachen und bin sehr stolz darauf, dass ich meinen Teil getan habe, diese kleine eigene Welt hier entstehen zu lassen. Es wird wohl noch dauern, bis es sich nicht mehr so anfühlt, als sollte ich zwischen ihnen zu stehen und mitlachen. Ich vermisse es. Vor Jahren war mal ein ganz furchtbarer Handwerker im Haus, und auf sein unsägliches Chaos angesprochen, schwieg er einen Moment und sagte mir dann feierlich: „Oft muss etwas erst schlechter werden, bevor es besser werden kann.“ Ich glaube zwar immer noch, dass seine Arbeit lausig war, aber lebensphilosophisch hatte er was drauf.

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10 Gedanken zu „Selbst Ständig Süchtig

  1. Lieber Rolf, durch Zufall bin ich auf deinen Blog gestoßen. Und habe gelesen, gelesen u gelesen. Du machst einfach wovon ich träume. Auch ich bin seit fast 20 Jahren selbstständig u hadere immer wieder, komme immer wieder an meine Grenzen, frage mich, soll es so bleiben. Wie anders, was ändern?
    Deine Worte berühren mich u begegnen mir passend. Deine Art zu schreiben gefällt mir u ich kann vieles so gut verstehen.
    Danke dafür! Mach weiter so u bleib gesund. Ich freu mich schon auf weitere Berichte, gute Reise wünscht dir
    Nicole
    P.S. Natürlich bin ich Miners-Besucherin der 1.Std

    1. Hallo Nicole,

      ich danke dir für dieses liebe Feedback. Zu lesen, dass meine Texte dich berühren, ist für mich unsagbar motivierend und schön.

      Alles Gute und sonnige Stunden!

    1. Hallo Susanna,

      vielen Dank! Offen und ehrlich zu schreiben ist gar nicht so leicht, wie es sich später lesen lässt, daher freue ich mich sehr über deinen Kommentar.

      Liebe Grüße aus Spanien,
      Rolf

  2. Lieber Rolf,

    auch mich berühren Deine Texte und ich bewundere Deinen Mut, Dich sowohl privat wie beruflich auf die ‚große Reise‘ zu machen.
    Viele von uns haben bestimmt denselben (geheimen) Wunsch … Oder Jemanden im näheren Umfeld, der sich mit bedrohlichen Krankheiten, seiner Lebensführung oder schlechten Angewohnheiten auseinandersetzen muss(te). Daher könnte ich mir vorstellen, dass Buchverlage Interesse an Deinen schönen und gut geschriebenen Texten haben könnten …
    Würdest Du ein Buch schreiben, ich tät’s kaufen 😉

    Allzeit gute Fahrt, tolle Erlebnisse auf Deinen Reisen ins Ich & die Welt und alles Gute!

    Gruß aus Bremen
    Corinne

    1. Liebe Corinne,

      vielen Dank für das, was du sagst. Das Schreiben ist für mich neu, es macht mir wahnsinnig viel Spaß und gibt mir etwas, was ich noch nicht ganz in Worte fassen kann. Es ist schön, wenn ich höre, dass meine Berichte Menschen erreichen und bewegen, die vielleicht in ähnlicher Situation sind oder ein Leben führen, wie ich es lange gelebt habe.

      Ein Buch aus all dem zu machen ist für mich ein Traum, ich habe das vor. Aber da ich ja gerade erst losgefahren bin, habe ich noch zu wenig verstanden.

      Liebe Grüße aus einem stillen Bulli am Atlantik,
      Rolf

  3. Lieber Rolf,
    schön wie du formulieren kannst und deine Zustände beschreibst, so dass man sich einfach in manchen Dingen auch ganz klar wiedererkennen kann. Ich dachte immer Selbstständig sein ist das Non-Plus Ultra im Berufsleben. Sehr interessant, deine Wahrnehmung zu lesen. Ich bin seit 30 Jahren angestellt und beneide die Menschen, die für sich selbst entscheiden können. Ich bin über Youtube Peace Love Om auf dein Video gestoßen und sehr über dein Equipment beeindruckt, gerade auch die mobile Waschmaschine. Wie lang bist du noch unterwegs? Mein Partner und ich wollen uns mit dem Wohnmobil im nächsten Jahr von Juli bis Okt auf den Weg machen. Dann nehme ich nach 30 Jahren Berufsleben ein Sabbatical. Liebe Grüße Tanja

    1. Liebe Tanja,
      eine schöne Sache mit dem Sabbatical. Ich werde sicher noch länger reisen. Mittlerweile kann ich es besser, fahre langsamer mit weniger Zielen.
      Zum Thema Ausstattung was man alles so braucht unterwegs, werde ich bald mal schreiben, da gibt es noch vielmehr an Bord als die Dinge aus dem YouTube-Video.
      Liebe Grüße

  4. Hallo Rolf.

    Ich habe gerade mit viel Begeisterung, deine Worte verschlungen. Du triffst genau den Punkt, der uns bewusst machen sollte, was im Leben wirklich wichtig ist. Leider haben nicht alle Menschen den Mut, oder das Glück, ihr einziges Leben so zu leben. Ich gehöre dazu. Aber Du hast mich für eine kurze Zeit in die Illusion entführt, von der ich schon seit einiger Zeit träume. Gut geschrieben.

    Ich danke Dir.
    Jens

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