Hinterm Horizont

Die andere Seite am Horizont

Simon Teuber wurde 29 Jahre alt, heute haben wir ihn begraben. Simon war mein Neffe, er hatte Multiple Sklerose. Ich kann nicht behaupten, ihn wirklich gekannt zu haben, und doch fühlte ich mich ihm seit meiner Diagnose auf eine besondere Art ganz tief verbunden. Simons Lebenszeit war verkürzt, das war ihm immer bewusst, aber er haderte nie mit seinem Schicksal. Fragte man ihn, wie’s geht, antwortete er, dass es so geht. Die Kapelle hier in Giesen ist bis auf den letzten Platz gefüllt, Simon sieht uns aus dem Portrait über seiner Urne heraus an, während Udo Lindenberg singt, dass es hinter dem Horizont weitergeht. Ich denke viel über den Tod nach, was er für mich bedeutet und wie ich wohl damit umgehen würde, hätte ich ihn zeitnah zu akzeptieren.

 

In meiner Reha sprachen wir oft über den Tod, er war dort allgegenwärtig und stand einigen in meiner Gruppe in den nächsten Jahren bevor. Ich erfuhr in therapeutisch begleiteten Gesprächen, dass die meisten vor dem Sterben Angst haben, aber nicht vor dem Tod an sich. Sterben definitiert sich in diesem Kontext aus der Kombination von Schmerzen, dem Verlust von Körperfunktionen und der schleichenden Verabschiedung des alten sozialen Umfelds. Wer sich wie ein Kind auf die Merengue-Tänze im nächsten Karibik-Urlaub freut, während sein Freund übermorgen ins Hospiz einzieht, schämt sich meistens für das eigene Glück. Also spricht man weniger über echte Gefühle oder schöne Perspektiven und versteckt sich hinter mutmachender Unverbindlichkeit, redet über die großartigen Fortschritte der Palliativmedizin und den sich verdammt gut lesenden Speiseplan. Natürlich liegt gerade hier die Gefahr, dass man sich zunehmend entfremdet, Besuche zur unangenehmen Pflichtveranstaltung und Freunde zu Bekannten werden.

 

Wenige Wochen bevor sie starb habe ich mit meiner Mutter über den Tod gesprochen, die ihn sehr gelassen und fast dankbar auf sich zukommen sah. Mein Vater war ein paar Jahre zuvor gestorben und leider ein großer Teil ihres Lebensinhaltes mit ihm. Kurz danach kam ihr Krebs zurück. Der Tod sei nicht schlimm, sagte sie mir damals, eigentlich wäre er unser Normalzustand, während unser Leben vielleicht eher die Ausnahme ist. Der Tod sei nur schlimm für die, die zurückbleiben müssen. Wenn ich heute an dieses Gespräch zurückdenke, dass wir auf einer Bank mit Blick auf das Grab meines Vaters führten, uns dabei die Hände hielten, dann bin ich immer noch traurig und tief betroffen aber auch unsagbar dankbar, es geführt zu haben.

 

Meinen eigenen Tod habe ich einmal geträumt, ein paar Tage nach der Tumor-Operation. Diesen Traum hat mir der liebe Gott im Rahmen seiner großangelegten Kampagne zur Wiedergutmachung geschenkt, möchte ich glauben. Ich erlebte dabei den Moment, in dem jede Anspannung und Verpflichtung, jede Angst von mir abfiel und einem tiefen Frieden platzmachte, der erlösend, befreiend und wirklich unbeschreiblich schön war. Wenn sich der Tod so anfühlt, dachte ich am Morgen danach, brauche ich keine Angst vor ihm haben.

 

Ich habe in meinem Leben viele geliebte Menschen verloren, geliebte Tiere und auch schon einmal fast mich selbst. Der Tod ist für mich ein schreiend schmerzhaftes Synonym für Abschied, für die tragisch kurze Zeit unserer Gemeinsamkeit, die eines Tages im Rückblick immer zu kurz gewesen sein wird. Aber nur wenn, oder vielleicht gerade weil ich meinen unausweichlichen Tod mittlerweile begreifen und akzeptieren kann, kann ich jeden Tag meines hoffentlich noch langen Lebens so dankbar und bewusst schätzen, wie es mir heute (meistens) gelingt.

 

Kurz nachdem mein Vater gestorben war, drucksten in meinem Café alle um mich herum, waren unangenehm berührt und verunsichert. Beileidsbekundungen wurden gemurmelt, Hände auf Schultern gelegt. Eine Mitarbeiterin, die selbst schon ihre Eltern verloren hatte, kam zu mir und nahm mich nur ganz fest in ihre Arme. Dann sah sie mich lächelnd an, strich mir einmal kurz über die Wange und ging wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben. Wie die Vorstellung eines Engels. Ich empfand damals und empfinde noch heute, dass man seine Anteilnahme an einer großen Traurigkeit kaum besser zeigen kann. Vielleicht ist das alles, was wir bei anderen und insbesondere auch bei uns selbst machen können.

 

 

Der beste Weg etwas zu lieben:
Realisieren, dass man es verlieren kann.

(Gilbert Chesterton)

 

Hinterm Horizont

 

Mein Lieblingsbuch der Woche: „Brief an mein Leben“ von Miriam Meckel.

 

12 Gedanken zu „Die andere Seite am Horizont

  1. ich fühle dir nach…….. und du scheinst denselben Ein-Blick zu haben wie ich
    und ja, ich bin dankbar für alles
    was geschah und war
    und schaue

    würd gern mir dir
    vielleicht am Meer sitzen
    …. und philosophieren

    deine Anke

  2. Ich fühle sehr mit dir,
    vielleicht weil wir die gleiche
    Denkweise im Bezug zum Thema
    Tod haben. Uns ist durch
    Krankheit erst richtig bewusst
    geworden wie wertvoll das Leben ist.
    Bleibe stark, kämpfe, genieße die
    schönen Augenblicke und behalte
    liebe Menschen im Herzen.

    L.Gr. Heiko

  3. Lieber Rolf, wieder einmal ‚kriegst Du mich‘ mit Deinen so offen gelegten Gedanken- und Gefühlsschleifen – es berührt mich, wie ehrlich & ’nah‘ Du alles mit uns teilst. Der Tod als Abschied ist schmerzhaft – wenn man etwas tiefer schaut & fühlt, oft Gnade – und vielleicht nicht einmal so viel anders als das Leben. Wir versuchen oft, mehr zu sehen, zu erleben und das Leben, die Zeit zu ’nutzen‘ und fragen uns ‚was will ich von meinem Leben‘. Und dann gibt es die Frage ‚was will das Leben von mir‘ – diese Gegenfrage hat mich einmal tief erreicht und ich stelle sie mir in Abständen immer wieder. Gibt es eine wertvollere Aufgabe als stets bewusster zu werden und zu leben, immer im jeweiligen Moment…?! Dann läuft nichts mehr weg, die Zeit rinnt einem nicht (mehr) durch die Finger. Man ist einfach ’nur‘ da und reist. Schönes, tiefes, leichtes, erkenntnisreiches Reisen Dir weiterhin – und DANKE, dass Du uns alle mitnimmst & daran teilhaben lässt. Herzlich, Franziska

  4. Nachrichten über den Tod eines Menschen. Unschöne Momente meist. Oft verbunden mit Schmerz, Traurigkeit; selten mit dem erleichternden Gefühl von Erlösung. Ich versuche oft, meine Gedanken weg vom Tod und hin zum Leben zu wenden. Vielleicht habe ich für mein Leben genug Tod gesehen und gefühlt (glücklicherweise in vielen Facetten). Und ja, schmerzhafter ist er fast immer für die, die zurückbleiben. Manche meinen, diese Sichtweise sei egoistisch. Ich denke, sie drückt die Hoffnungs- und Ratlosigkeit des Moments aus. Wenn eines im Leben sicher ist, dann ist es wohl der Tod. Darum versuche ich viel zu Lächeln und die Zeit, die ich habe, mit Leben zu füllen; mit Freude und Traurigkeit. Denn letzten Endes gehört all das dazu.
    Gute Reise weiterhin und einen schönen ersten Advent.
    Und gute Gedanken für die engste Familie von Simon. Ich kann mir vorstellen, daß sie die jetzt gebrauchen können.

  5. Lieber Rolf, herzlichen Dank für Deine mich sehr berührenden Worte. Ich habe Dich erst vor kurzem entdeckt und lese Deine wunderbaren Beiträge sehr gern.

  6. Habe heute Morgen die Traueranzeige in der HAZ gelesen, Giesen, keine 2 Km von meinem Wohnort entfernt.
    Rolf, mein Mitgefühl zum Verlust deines Neffen. Fühle dich gedrückt.

    Danke für deine bewegende Worte, auch zum Nachdenken!

    Danke auch an Franziska für die inspirierende Worte! „Gibt es eine wertvollere Aufgabe als stets bewusster zu werden und zu leben, immer im jeweiligen Moment…?! Dann läuft nichts mehr weg, die Zeit rinnt einem nicht (mehr) durch die Finger. Man ist einfach ’nur‘ da und reist.“

    Liebe Grüße
    Maria

  7. Der Tod ist groß,
    Wir sind die Seinen
    lachenden Munds.
    Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
    wagt er zu weinen
    mitten in uns.

    Rainer Maria Rilke

    Danke für deine wunderbaren Gedanken, die immer wieder in ähnlicher Form die meinen sind.
    Das Leben wird intensiver, wenn wir uns auch mit der eigenen Endlichkeit befassen. Und doch funktioniert es nicht, wirklich jeden Augenblick zu leben, als wäre es der Letzte. Bewußtheit und Routine wechseln einander ab. Wir können dankbar sein, wenn uns der Blick über den eigenen Rand gelingen kann.
    Mein herzliches Beileid für alle im Umfeld dieses jungen, intensiv gelebten Menschen.

  8. Ich bin immer wieder berührt und beeindruckt über den Tiefgang Ihrer Beiträge sowie den dazugehörigen Kommentaren. Eigentlich schade, daß der Alltag oft so viel Wesentliches überdeckt… Durch den Tod meiner Eltern und Großeltern habe ich mir schon als Jugendliche oft über den Tod Gedanken gemacht..und als mobile Hospizschwester durfte ich viele Menschen begleiten… der Tod zeigt uns die Einzigartigkeit unseres Lebens auf,..zeigt uns auf, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und den Blick zu schärfen, was eigentlich zählt..man stellt sich oft die Sinnfrage des Lebens, warum hat ein Neugeborenes nur Stunden zu leben,… man zweifelt und sucht nach Antworten…vieles ist mit dem menschlichen Verstand nicht begreifbar….manche finden Trost im Glauben… viel wichtiger erscheint mir aber Menschen in schwierigen Situationen beizustehen – vor allem wenns einem selber besser geht – um das Leben bewältigen zu können…mit dem Tod stirbt auch ein Stück des eigenen Lebens, nämlich die lebendige Beziehung zu diesem Menschen… was bleibt sind Erinnerungen, die man im Herzen trägt….mein kleiner Cousin sagte mal bei einem Begräbnis: „Stell Dir vor, es gäbe keinen Tod und wir müßten ewig auf der Erde bleiben…“ insofern kann der Tod auch etwas Erlösendes, Leichtes haben, auch wenn es uns Hinterbliebenen oft schwer fällt…eines konnte ich immer wieder mitnehmen: Menschen, die mit dem Tod schon einmal „Bekanntschaft“ geschlossen haben, sehen das Leben intensiver….und leben es auch intensiver Eine schöne, besinnliche Adventzeit mit Ruhe im Herzen

  9. Jetzt rollen die Tränen…mich macht es immer sehr traurig wenn junge Menschen so zeitig sterben.
    Eine Erfahrung habe ich mit dir gemeinsam…den Moment des absoluten Loslassen und Fallenlassens…Frieden pur.

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