Santiago de Compostela

Santiago de Compostela (1)

Hier also befindet sich die Grabstätte des Apostels Jakobus, seit dem 11. Jahrhundert Ziel des legendären Jakobsweges. Ob das stimmt, ist nicht einmal gesagt, denn der Schädel von Jakob liegt in Jerusalem, behaupten zumindest die Leute in Jerusalem. Santiago de Compostela ist die drittgrößte christliche Pilgerstätte hinter Rom und Jerusalem, aber das Bild in den Straßen und Cafés lässt mich an dieser Rangfolge zweifeln.

 

Die riesige Altstadt mit ihren vielen labyrinthartig angeordneten engen Gassen voller kleiner Läden ist imposant, und natürlich verirre ich mich in kürzester Zeit darin. Ein karierter Schotte im Rock kommt mir entgegen, links überholt mich ein Priester, rechts ein Trupp Südamerikaner. Dort zwei Afrikanerinnen im grellbunten Partnerlook, da ein übriggebliebener 68er mit Zopf und einer Puppe auf irrwitzig hohen Stöckelschuhen, die um Gottes Willen hoffentlich seine Tochter ist. Und Pilger. Überall Pilger. Sie sind allgegenwärtig, unübersehbar. Santiago ist ein Wimmelbilderbuch abgerissener Wanderer, ein bebender Almanach des Who-is-who der Rucksäcke.

 

Der Platz vor der großen Kathedrale ist das Ziel ihres Weges, dort endet der manchmal monatelange und entbehrungsreiche Gang, der nicht wenigen von ihnen deutlich im Gesicht steht. Die Pilger sitzen erleichtert auf dem Boden oder abseits an eine Säule gelehnt in seliger Erleichterung für sich allein. Einige liegen langgestreckt nur einfach da, andere fallen sich weinend in die Arme. Es ist schön, es ist besonders, man ist bei sich und doch zusammen in einer Gemeinschaft, die unausgesprochen bleibt. Ich sitze viele Stunden mitten unter ihnen, mein Hirn von Verstand auf Empfindung umgeschaltet, und lasse mich in einer Illussion von Zugehörigkeit und gelebter Geschichte treiben.

 

Ein paar Meter weiter sehe ich eine junge Frau mit ultramodernem Design-Wanderstock in Leimholz, neonfarbigem Hightech-Rucksack und neuwertigen Edel-Trekkingschuhen, die eine Unzahl Selfies in allen erdenklichen Posen von sich macht, auf denen sie eine Spur zu pathetisch guckt, wie ich finde. Dies ist eine Seite des heutigen Jakobsweges, die mir nicht gefallen mag. Auch in Deutschland ist er seit Hape Kerkeling zu einem gefragten Instrument der spirituell angehauchten Selbstdarstellung und sozial vernetzten Grenzerfahrung mutiert, die längst nichts mehr mit heiligem Pilgertum im ursprünglichen Sinne zu tun hat. Hier heute sehe ich das zum Glück nur vereinzelt, die Sommerferien sind ja auch vorbei.

 

Santiago de Compostela bietet wie jede Stadt Licht und Schatten, aber das Licht liegt dabei weit vorne, sogar im Dunklen, wie ich gestern in der Kathedrale erleben konnte. Aus einem abgesperrten Bereich vor dem Altar heraus erhob sich plötzlich ein zunächst leiser hellstimmiger Frauen-Choral, der das Gebrummel der vielen Touristen und Besucher nach und nach zum Erliegen brachte. Die Menschen blieben stehen, und überall, verteilt auf unzähligen Sitzbänken um mich herum, stimmten Frauen in diesen Choral ein. Und dann saß ich mit meinen über fünfzig da und hatte wirklich feuchte Augen, weil ich noch nie etwas Schöneres gehört hatte. Gott ist groß, M‘sabu.

 

 

Camino

2 Gedanken zu „Santiago de Compostela (1)

  1. Wunderbar! Danke! Präzise auf den Punkt!
    Ich werde von Porto aus kommend nächstes Jahr dort auch zu Fuß ankommen.
    Wer wird dann wohl auf meinen Rucksack und in meine Seele schauen…?

    1. Bin grad im August von Porto nach Santiago! Es war großartig und sicher nicht das letzte mal. Hat viel gemacht mit mir. Santiago ist wirklich ein Traum. Ich hatte mehrfach Gänsepelle und Pipi in den Augen. Die Menschen..Gebäude.. Überall Musik..Die dickste Pellen hatt ich in der Messe als auch noch das Botafuma geschwenkt wurde.
      Ein Haken mehr auf der „to do before die“ Liste 🙂
      Next is „mit Womo durch Europa“
      Yesss

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