Faustino Rodrigues

Von Träumen und Wahrheiten

Mein Freund Faustino Rodrigues empfängt mich mit offenen Armen, einem freudig spanischem „Rolfe“ und diesem besonderen Lächeln, das seine Augen nie verlässt. Mein erster Job, den ich vor 30 Jahren als junger Fotograf bekam, bestand darin, 800 in eine Pizza beißende Osnabrücker zu fotografieren. Auftraggeber war eine ansässige Pizzeria, einer der Inhaber Faustino. Er war mein erster Kunde, aber als er vor Jahren Deutschland verließ und hier nach Vigo zog, waren wir längst Freunde geworden.

 

Die Tage in Galizien sind geprägt von spanischer Lebensweise, aufgebahrten Tintenfischen, die manch einer essen würde, und Gerichten mit Miesmuscheln aus der Region, den besten der Welt. Besonders gut gefällt mir die nahe Kleinstadt Tui. Ihre Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert liegt auf dem Camino Portugues, einer südlichen Variante des Jakobswegs. Auf den Stufen sitzen drei Pilger mit leeren Blicken, einer davon nahezu skelettiert. Als ich Faustino frage, wie man Pilger und Obdachlose unterscheiden kann, sagt er, dass Pilger immer freundlich grüßen und nicht nach Geld fragen. Ich freue mich über die Gutmütigkeit in seiner Stimme, und fühle plötzlich eine Woge großer Dankbarkeit in mir, dass wir beide heute hier sein können.

 

In der Tat ist das für mich ein ganz besonderes Erlebnis, hier mit ihm unterwegs zu sein. Wenn ich Faustino sehe, muss ich immer auch an mein junges Ich vor 30 Jahren denken, wie mein Leben damals aussah und was seitdem alles passiert ist. Irgendwie zwingt es mich dazu, mich in Gedanken den Lebensträumen zu stellen, die ich mit Anfang zwanzig einmal hatte. Damals wollte ich vor allem guter Fotograf sein, meine Arbeiten in Zeitschriften und Ausstellungen platzieren, um irgendwann einmal gut davon leben zu können.

 

Rückblickend ist das Leben lediglich eine Abfolge ungeplanter Vorkommnisse und nicht absehbarer Wendungen, eine Verkettung aus Ideen, Niederlagen und Träumen. Ich habe nie verstanden, ob ich mein Leben jemals in der Hand hatte oder es mich einfach nur mitgerissen hat. Fotograf war ich, dann wurde ich Pizzabäcker, dann Kosmetikhändler, dann Kaffeeverkäufer und nun ein alter Blogger, der gestern Nacht fast eine Kuh überfahren hat.

 

Mein jugendlicher Lebenstraum hat sich nicht erfüllen lassen, soviel steht fest. Es gibt trotzdem nichts zu bereuen oder zu bedauern, denn er hätte mich vielleicht gar nicht glücklich gemacht. Professionelle Fotografie erfordert ein Streben nach Perfektion, sonst wäre man ja nie mit dem Ergebnis zufrieden, doch vor ein paar Jahren habe ich mich ganz bewusst entschlossen, nicht mehr perfekt sein zu wollen. Welch ein Dilemma wäre das gewesen.

 

Ich habe in den Jahren nach meiner Krankheit sehr viel über das Leben nachgedacht, aber das vielleicht wichtigste war das Eingeständnis mir selbst gegenüber, dass ich viele Fehler habe und noch mehr Fehler mache, aber immerhin das Beste versuche und keinem schade. Mit dieser Einstellung kann ich gut leben, es lässt mich heute sehr viel zufriedener als früher sein. Wenn ich also einen Jugentraum und 30 Jahre Arbeit einsetzen musste, um hierhin zu kommen, dann war es diesen Einsatz wert. Zufriedenheit ist die emotionale Entsprechung einer völligen Windstille, in der man einfach dahintreibt. Das war ein Zitat von Stephen King und besser könnte man es nicht ausdrücken.

 

 

Tintenfische

 

2 Gedanken zu „Von Träumen und Wahrheiten

  1. Hallo Rolf,

    Danke auch wieder für das Fenster das Du geöffnet hast um einen weiteren Einblick in Deine Persönlichkeit zu gewähren. Es ist bereichernd Deine Geschichten zu lesen.

    Ganz liebe Grüße aus dem sonnigen Herford
    Thomas

  2. Hallo Tom,

    hab lieben Dank für deine Worte! Spanien öffnet die Herzen, das kann ich jetzt schon nach zwei Wochen sagen. Die Sonne macht etwas mit uns.

    Grüße aus dem Süden,
    Rolf

Schreibe einen Kommentar