Kindheit

Freie Indianer und ihre Schmerzen

Mein Erzfeind Specki Werner von zwei Häuser weiter wog doppelt so viel wie ich. Also schien es ihm naheliegend, sich bei jeder Gelegenheit auf mich zu werfen und mich unter sich zu zerquetschen. Wenn ich dann heulend und zerschunden in unserer Küche saß, sagte mein Vater mir immer, dass ein Indianer keinen Schmerz kennt. Also zog ich die Nase hoch, wischte mir Rotz und Tränen ab und schwor mir, Werner morgen zu kriegen. Indianer kennen nämlich nicht nur keinen Schmerz, die geben auch nicht so schnell auf.

 

44 Jahre später war ich kein Indianer mehr, aber trotzdem zerschunden. Mein Specki Werner dieser Tage war ein bösartiger Tumor, aber diesmal hatte ich ihn gekriegt. Ich befand mich im siebten Stock einer Klinik in Dortmund. Meine große OP im Bauchraum lag zwei Wochen hinter mir, am nächsten Tag würde ich entlassen werden. Was immer ich an Ängsten in den Wochen davor durchlebt hatte, sie fielen alle von mir ab. Ich sah aus dem Fenster und machte nichts außer da zu sein. Meine Gedanken waren leer, versunken in dem Bild der Stadt zu meinen Füßen, gefangen in Strukturen und Lichtreflexen. Über Stunden atmete ich tief und ruhig, saß einfach nur da und fühlte einen so tiefen erlösenden Frieden in mir, als hätte jemand, der mich liebt und es sehr gut mit mir meint, eine warme Decke um mich gelegt. Die ganze Welt war, wie sie sein sollte und ich wie ein Blatt im Wind. Frei.

 

Dieser tiefe innere Frieden, so wie ich ihn an diesem letzten Tag in der Klinik empfinden konnte, schien mir wie etwas, das ich ein Leben lang gesucht hatte. Fast eine Grenzerfahrung. Ich wollte mehr davon, diese neue Wahrnehmung kultivieren und einen Weg finden, sie irgendwie festzuhalten und in mein Leben zu integrieren. Schon ein paar Wochen später war klar, dass das in meiner 24/7-Welt natürlich nicht funktionieren würde. An diesem Punkt muss man sich dann entscheiden, entweder für das Mehr an Glück oder das Mehr an Sicherheit. Schwierig, beides wichtig.

 

Vor nicht ganz zwei Jahren stand ich um drei Uhr früh auf, zog mich an und ging über die Straße raus in den Wald. So etwas hatte ich noch nie gemacht. Es war stockduster, beschissen kalt und Schmerzen hatte ich auch. Ich verbrachte eine dämliche halbe Stunde alleine auf einer Bank oben im Wald, hörte besorgt auf gruselige Geräusche in den Büschen und schlich mich dann wieder zurück. Gegen vier saß ich in meiner Küche, wärmte meine Hände an einer Caffé Latte und war um eine Erfahrung reicher, die man nicht zwingend gemacht haben muss. Aber es fühlte sich gut an, und ich traf meine Entscheidung.

 

Der Bulli ist gepackt und startklar. Heute geht es los, zunächst durch Frankreich nach Spanien, in Vigo und Santiago de Compostela besuche ich Freunde, und danach weiter nach Portugal, wo meine Lebenspartnerin in Lissabon für eine Woche zu mir stösst. Für diese Tour habe ich mir vorgenommen, ein paar Landsleute aufzusuchen, die sich im Süden dauerhaft niedergelassen haben. Ich bin sehr gespannt auf ihre Geschichten. Die Entscheidung, die ich traf, hat mir bisher nicht den inneren Frieden gebracht, da müsste ich lügen, doch ich bin zuversichtlich. Alte Häuptlinge sind so.

 

Ein Gedanke zu „Freie Indianer und ihre Schmerzen

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