Lissabon

Ein Gefühl aus Lissabon

Das Mosteiro dos Jerónimos, zum Unesco-Welterbe zählendes Hieronymuskloster, gilt als Symbol des goldenen Zeitalters der Entdeckungen. Die Warteschlange ist endlos, ich breche innerlich zusammen. Nach einer knappen Stunde erklärt ein deutscher Mann weiter vorne seiner Frau und uns Anderen, dass das hier doch wohl absolute Scheiße sei, es das alles gar nicht gäbe und die mal mit den Amerikanern sprechen sollten, die sowas besser raus hätten. Später im schönen Kreuzgang sehe ich ihn erneut, als er sein Smartphone wie nebenbei einhändig auf die einzigartigen Deckenornamente hält, zum späteren Nachweis seines Besuchs. Jeder reist eben anders, denke ich.

 

Früh am nächsten Morgen sitze ich im Stadtbus, Lissabon zieht an mir vorbei. Ich bin versunken in der Alltäglichkeit ihrer Menschen, die mit Tüten vom Markt kommen oder noch schlaftrunken hinter dampfenden Kastanien-Ständen auf erste Kunden warten. Eine Kulisse aus tiefstehender Morgensonne und staubigen Häusern, dem telefonierendem Busfahrer und hereinströmenden Geräuschen an den Haltestellen schenkt mir meinen ersten wahren Eindruck dieser Stadt. Zwischen den normalen einheimischen Arbeitern, Schülern und Rentnern zu sitzen, sie zu beobachten, tüddeligen Omas meinen Platz anzubieten, lässt mich zu einem von ihnen werden. Vor mir im Gang stehen eine junge Portugiesin und ihr etwa 8-jähriger Sohn, der einer Trump-Voodoo-Puppe eine dicke Nadel in ein Auge drückt, auf gleicher Höhe sitzt eine goldaufgetakelte Frau, die missbiligend zusieht.

 

Das ist meine Form bevorzugter Reiseerfahrung, nach der ich mittlerweile hauptsächlich suche. Als Langzeitreisender kann ich mir viel Zeit nehmen und genau hinsehen, tief eintauchen in die vielen unscheinbaren Kleinigkeiten, die in ihrer Summe gleichermaßen Seele und Lebensgefühl einer Stadt sind. Ich sitze auf Märkten oder vor Cafés, beobachte über Stunden die Einheimischen und nehme für jeweils kurze Momente an ihrem persönlichen Alltag teil. So wird der Tag für mich zu einem Buch voller Kurzgeschichten, in dem ich von Melodram bis Satire alles finde. Es ist seine ganz eigene Gelassenheit, die das alte Lissabon zu einer der größten Metropolen der Welt macht, und die finde ich hier inmitten der Normalität, abseits aller Touristenpfade.

 

Beim Essen handhabe ich das ähnlich, die angesagten Szene-Lokale in Hauptstädten sind ohnehin nicht gerade ein Fest für Alleinreisende meines Alters. Beim jungen Publikum dieser Läden, in denen vegane Hipster mit irgendwas Buntem anstossen, bin ich längst mental aussortiert. Und Tische für Alleinessende, keine gefragte Zielgruppe im Fokus, sind auch nie so besonders. Immer wahlweise direkter Blick in die Toiletten oder Fettschwaden der Küche, und während die Tische der lachenden Gruppen mit prächtigen Blumengestecken liebevoll dekoriert wurden, steht vor mir etwas, das sicher mal einer auf der Kirmes geschossen hat.

 

In Mártires, einem nahegelegenen Vorort, sitze ich in einem einfachen Restaurant unter Einheimischen bei einer Portion Pastéis de bacalhau, einem Haufen portugiesischer Kabeljau-Buletten auf einem gelblichen Brei. Irgendwie Reis, schwer zu erkennen, aber lecker. Am Tisch neben mir sitzt ein Polizist mit dem gleichen Gericht und einer Monobraue, die bis zu seinen Ohren geht. Während er kauend etwas trinkt, sieht er mich an, sieht meinen Teller an und zeigt lachend den Daumen hoch. Die Menschen dieser Stadt sind herzlich und offen, wenn man sich auf sie einlässt. Unter ihnen zu sein zeigt, dass man ihre Art zu leben und sie selbst schätzt. Als der Polizist später geht, klopft er auf meinen Tisch und sagt winkend irgendeinen portugiesischen Gruß.

 

Tags darauf etwa zur gleichen Zeit bin ich erneut da, und wieder sehe ich den Polizisten dort. Er lacht und grüßt, quer durch den Laden. Der Kellner erklärt mir in einer Sprache, die ich inzwischen Europa nenne, das Tagesgericht. Hin und wieder mischt sich dabei ein Mann vom Nebentisch ein, der ein paar Brocken Englisch beisteuern kann. Diesen Abend gibt es Cozido à portugues, sehr fleischlastig, geschmacklich überraschend gut. Das kleine Restaurant habe ich noch zweimal in dieser Woche besucht, und jedes mal wurden mir die Gäste dabei vertrauter und ich ihnen wohl auch. Das Mosteiro dos Jerónimos hatte ich im Prinzip schon am nächsten Tag vergessen.

 

6 Gedanken zu „Ein Gefühl aus Lissabon

  1. Danke für deine informativen, sehr interessanten Reiseberichte. Es macht mir immer wieder Freude für den Moment ein Stück Alltag hinter mir zu lassen, um in eine andere bunte Welt mit bewegten Bildern und eindrucksvollen Geschichten eintauchen zu dürfen.
    Liebe Grüße
    Ute

  2. Jeder reist anders. Da ist was dran und jeder kann Geschichten über diese „anderen“ Reisenden erzählen. In deiner Art zu reisen finde ich viel von unserem eigenen Reisestil wieder. Natürlich ist es toll, die Sehenswürdigkeiten dieser Welt besucht zu haben. Doch was wirklich haften bleibt, sind die Begegnungen mit den Menschen. Und fast immer zeigt sich, dass die eigene Offenheit und Herzlichkeit zurückgegeben wird. So werden auch Sprachbarrieren überwunden. Ich persönlich finde es schade, dass sich Esperanto als Weltsprache nicht durchgesetzt hat. Liebe Grüße und gute Reise!

  3. Hallo Rolf,
    bitte, bitte bleibe bitte beim Schreiben. Die Art, wie du auf die Welt blickst und das dann zu Papier bringst ist wirklich eine besondere Begabung.
    Gruß Gela

  4. Es ist immer wieder schön und interessant, Deine Berichte zu lesen. Die Portugiesen sind nette und freundliche Menschen. Freu mich auf den nächsten Bericht

  5. Wieder einmal großartig geschrieben, bin “süchtig“ nach deine Reiseberichte. ; ) Und wieder habe ich mich dorthin versetzt gefühlt, ich glaube sogar im selben Restaurant schon mal zu Mittag gegessen zu haben!
    Deine Geschichten lassen mich, als gebürtige Portugiesin und in Cascais aufgewachsen, in der Vergangenheit eintauchen.
    Ein Tipp von mir, wenn die Pastéis de Bacalhau dir gemundet haben, solltest du unbedingt Bacalhau á Brás probieren. Lecker! : )

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